Abi ´98

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Junge Seite / Der Filmtip


ABI ´98

DIE JUNGE SEITE

Freitag 19. Juni 1998


Der Filmtip:

"Arm würd' ich nicht sagen ..."

Im Laufe eines gestreßten Schülerlebens bekommt man eine Vielzahl von lehrreichen Filmen vorgesetzt, deren Inhalte zumeist noch nicht einmal das Kurzzeitgedächtnis der meisten Schüler erreichen - selbst eine mehrmalige Wiederholung der Filmvorführung trägt nicht gerade zu einer Erweiterung des Lemhorizontes bei.

Ganz anders war es bei einem Film, den uns Herr Jennen im SoWi-Grundkurs vorführte. "Arm würd' ich nicht sagen" lautete der Titel dieses Werkes, das die Lebensverhältnisse einer Familie in der sogenannten Papageiensiedlung zu Köln zeigte. Auch wenn spießbürgerliche Nachbarn, die sich über den gesunkenen Verkehrswert ihres Eigenheims aufgrund der Nähe zu diesem Projekt des sozialen Wohnungsbaus beklagen, mit Verachtung auf unsere liebe Familie schauen, so hat sich diese ihren Stolz bewahrt.

Der Aufstieg von den Autobahnbrücken des Kölner Stadtringes über das Obdachlosenasyl bis hin zu dieser Sozialwohnung verlief ja geradezu rasant. Insbesondere hat diese Familie auch viel in Eigenleistung hierzu beigetragen - mit der steigenden Zahl von Kindern stieg schließlich auch der Raumbedarf - vielleicht haben sich auch nur andere Insassen des Obdachlosenwohnheims über den Gestank und das Geschrei der Neugeborenen aufgeregt - ein ehrlicher Bettler hat schließlich auch Anspruch aufseine Nachtruhe.
So blieb dem zuständigen Dezementen vom Sozialamt nichts anderes übrig, als die Familie in eine neugebaute Sozialwohnung zu verfrachten.

Mit gutem Grund ordnet der Familienvater seine Familie also dem Mittelstand zu, denn er als Lagerarbeiter und seine Frau, eifrige Kloputzerin, haben es schließlich zu etwas gebracht. Und arm ist die Familie auch nicht. Fast ein Dutzend Kinder nennt sie ihr eigen. Die meisten sind so clever, daß sie noch nicht einmal die Hauptschule beenden müssen. Mutter meint, in der Schule lernt man ja eh nichts mehr dazu...

Auch in wirtschaftlicher Hinsicht geht es der Familie gut. Wohl aufgrund der vielen Zuschüsse vom Sozialamt ist sie bei Warenversandhäusem immer noch kreditwürdig. Die zehntausend Mark Schulden bei so einem hohen Monatseinkommen der beiden Eltern sind ja auch wirklich ein Klacks.


Von diesem Standpunkt ausgehend verwundert es nicht, wenn es dann auch mal Probleme mit dem Mein und Dein der Nachbarn gibt. Die Spießbürger von nebenan fühlen sich von der Polizei im Stich gelassen und rüsten schon mal auf. Was ist die ehemalige Mauer gegen unseren Gartenzaun - gar nichts, wenn wir hier alles verdrahtet haben. Unsere Mittelstandsfamilie weist alle Diebstahlsvorwürfe zurück; das Familienoberhaupt: "Die können unseren Kindern gar nichts beweisen!"

Angesichts dieser Talente verwundert es, daß die Aussage: "In 10 Jahren haben wir unser eigenes Häuschen im Grünen!" nicht in Erfüllung ging. Zur Freude der zuschauenden Schüler besuchte nämlich ein Fernsehteam nach 10 Jahren noch einmal unsere Familie und drehte eine Fortsetzung dieses unterhaltsamen Dokumentarstükkes.

Sie wohnen zwar noch immer in der Papageiensiedlung, haben aber weiterhin große Fortschritte in Bezug auf die Alterssicherung gemacht. Die Anzahl der Familienmitglieder hat sich durch die fleißige Arbeit der drei ältesten Kinder verdoppelt. Anscheinend gilt für die Familie das Motto: Geteiltes Leid ist halbes Leid, und fröhlich schaffen wir die besten Startbedingungen für unsere Kinder und Enkelkinder.

Aufkommende Gedanken an Entwicklungsländer, wo die einzige Chance der Rentensicherung in vielen Kindern besteht - bei einer hohen Kindersterblichkeit - möge der Leser bitte wieder verdrängen. Diese Familie lebt in Westdeutschland und nicht in Deutsch- Südwest-Afrika - dies soll jetzt nicht diskriminierend gegenüber den Bewohnern Namibias sein, allgemein gilt jedoch hierzulande die soziale Marktwirtschaft, d.h. die Schwachen werden unterstützt. Mit den Worten Nobbi Blüms: Die Renten sind sicher - Privatvorsorge ist gut, aber muß sie gleich in diesem Maße stattfinden.

Die großartige Resonanz im SoWi-Grundkurs führte dazu, daß auch der Zusatzkurs von Herrn Jennen in diesen Filmgenuß kam. Unser Mitleid gilt an dieser Stelle all denen, die dieses großartige Werk der Femsehgeschichte nicht sehen konnten.

Unsere Note: 1+

Carsten Vyvers



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