Tristitia ante...
Nenn's Glück, Herz, Liebe, Strich! (Akkumulation). Die ständige Jagd nach Strichen bestimmte unseren leidigen Schulalltag. "Nur ein halber Strich!" war der schlimmste Vorwurf, 19 Striche ein Triumph. Striche waren das Maß unserer geistigen Größe (Alliteration) oder Abtippfähigkeit. Ein gewöhnliches Referat hob den Durchschnittsschüler in den Olymp der Striche. Minusstriche stürzten ihn allerdings wieder vom Himmelsthron hinab auf die einfache Erde oder noch darunter (Striche im negativen Zahlenbereich). Hotels bekommen Sterne. Wir bekamen Striche und zum Schluß Punkte. Strich, Strich, Strich, Strich, fertig ist das zufriedene Schülergesicht (unreiner Reim).
Das war aber nicht immer so. Ransmayr schreibt (ungefähr):
"Das erste Menschengeschlecht
kannte keine Striche
ohne Referate zu brauchen
lebten die Schüler sorglos
und in sanfter Ruhe dahin."
Die hatten es gut. In unserem Deutsch - LK kitzelte Gerd mit Zuckerlob und Strichepeitsche nebst anderer pädagogischer Tricks und Kniffe immer das ultimativ Beste aus uns heraus und fragte in gewohnt kumpelhafter Manier nach der persönlichen Meinung ausgewählter Kursmitglieder (der Elite der Elite (Tautologie?)). "Na Julia, was sagst du denn dazu? Ransmayr war doch 'n toller Typ."
Ransmayr, Aussteiger und Autor mit vermeintlichem Kultstatus und ohne Lebensversicherung erfüllte alle Prämissen um als postmodemes Idol des Doc Brenner zu bestehen, dieses Che Guevaras der 68er Studentenbewegung (heute noch an Haartracht zu erkennen).
Obwohl aber dem AussteiGerdum so zugetan, frönte der Doc selbst der "bürgerlichen Prostitution" (Ehe) und erfreute sich an seinem Beamtenstatus.
Mit Ransmayr bewies Gerd, daß er seinen Finger immer noch am Puls der Zeit hatte. Während Dr. Brenner allerdings in ungeahnte geistige Höhen entschwebte, ließ er uns, um Verständnis ringend auf "die letzte Welt" sitzen. Seine Versuche, uns, die Intelligenzia, auf seinen Höhenflug mitzunehmen, scheiterten an unserem Widerstand, da wir uns weigerten, "das fliegende Klassenzimmer" zu imitieren. (kurze Metapheranalyse: das tertium comperationes ist hier leicht zu klären. Der Lehrer wird mit Gott verglichen. Beide sind allmächtig, haben ihr eigenes Buch herausgegeben (Bibel/Deutschbuch für die gymnasiale Oberstufe) und beide sind Bartträger). Einige von uns wehrten sich gegen Ransmayr, so wie der Gesamtkurs sich gegen das Strichesystem wehrte (was wir als Post-68er ja laut Brenner nicht oft genug taten). Hier verriet Gerd seine liberale-revolutionäre-prodemokratische Althippigesinnung. Das Strichesystem blieb, bleibt und wird bleiben ähnlich einem kirchlichen Dogma (Wir fühlen mit den Nachgeborenen. Seid gewiß, wir haben gekämpft.).
"Helios, der du knietief watend im grauen Weltall schleuderst die goldene Scheibe..." Doch wo in unserem Deutschkurs das Licht der Erkenntnis "brennern" sollte war allzu oft nur Sonnenfinsternis (antithetisch, wa?). So ist Dr. Brenner hier auch nicht mit Helios gleichzusetzen, sondern viel mehr mit dem ergrauten Weltall (siehe erneut Haarpracht).
Nach 13.1 wußten wir: "nichts konnte wieder werden wie es war" (Ransmayr), denn mit der Sprachtheorie wurden wir der dem Deutschkurs innewohnenden Schizophrenie gewahr. Waren von uns Fremdwörter bis dato als unseren geistigen Intellekt adäquat widerspiegelnde Instrumente benutzt worden, die den Lehrer blendeten und die Note hoben, so erkannten wir nun die Gefahr der feindlichen Armeen der Anglizismen, die unsere Sprachkultur bedrohten.
Unbemerkt schlichen sich subversive englische Sprachelemente auch in unserer teutschen Alltagssprache ein wie zum
Beispiel: "In der face-to-face Kommunikation zeigt sich doch deutlich, daß Lotte ein No-nonsense Typ ist" ("Eike, wie bitte?" O-ton Carina Fries)
Lieutenant Commander Gerd kämpfte wacker gegen diese Aliens, wurde aber oft genug selber Opfer ("Anglizismen ist ein tolles Wort. Das solltet ihr euch notieren.").
Zur Ellipse verzerrt, sank die Sonne in die Dunstbarriere über dem Horizont (Chris Ransmayr). Scheiden tut weh (Ironie?).
Julia Wessel, Nadine Jesionek
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